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Warum der Kapitalismus nicht weltweit funktioniert

Hernando de Soto

1. KAPITEL

Die Frage, deren Beantwortung den Schlüssel zum ganzen Problem liefert, lautet also Aus welchen Gründen hat der Sektor der Gesellschaft von gestern, den ich ohne zu zögern als kapitalistisch einstufen möchte, wie unter einer Glasglocke gelebt, warum konnte er nicht ausschwärmen und die ganze Gesellschaft erobern? [Warum gestattete] die Gesellschaft von gestern eine nennenswerte Kapitalbildungsrate nur in bestimmten Bereichen, nicht aber im Gesamtgefüge der damaligen Marktwirtschaft?

Fernand Braudel, Der Handel

 bell jar

Die Stunde seines größten Triumphes ist für den Kapitalismus zugleich die Stunde seiner Krise.

Der Fall der Berliner Mauer beendete mehr als hundert Jahre politischer Konkurrenz zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Nun präsentiert sich der Kapitalismus als die einzig praktikable Methode, ein moderne Volkswirtschaft zweckmäßig zu organisieren. Zum jetzigen Zeitpunkt der Geschichte hat keine verantwortungsbewusste Nation eine andere Wahl. Also haben Entwicklungsländer und einstige kommunistische Staaten — mit unterschiedlicher Begeisterung — ihre Haushalte ausgeglichen, Subventionen gekürzt und Zollschranken aufgehoben.

Das Ergebnis ihrer Bemühungen war schwere Enttäuschung. Von Russland bis Venezuela waren die letzten fünf Jahre durch wirtschaftliche Entbehrungen, sinkende Einkommen, Angst und Zorn geprägt. Oder wie der malaysische Premierminister Mohamad Mahathir bitter anmerkte: "Hunger, Aufruhr und Plünderung". Kürzlich hießes in einem Leitartikel der New York Times: " Nach dem Sieg im Kalten Krieg ist für den gößten Teil der Welt der vom Westen so gepriesene freie Markt ersetzt worden durch die Grausamkeit der Märkte, durch Vorbehalte gegenüber dem Kapitalismus und die Gefahren der Instabilität." Der Triumph des Kapitalismus nur im Westen könne geradezu eine Rezeptur für wirtschaftliche und politische Katastrophen in der übrigen Welt sein.

Für die in Frieden und Wohlstand lebenden Amerikaner war es allzu leicht, den Aufruhr in anderen Teilen der Welt zu ignorieren. Wie kann der Kapitalismus in Schwierigkeiten stecken, wenn der Dow-Jones-Index höher klettert als Sir Edmund Hillary? Wenn die Amerikaner auf andere Nationen blicken, sehen sie Fortschritte, mögen sie noch so schleppend sein. Kann man in Moskau etwa keine Big Macs essen, in Schanghai keine brandheißen Videos ausleihen und sich in Caracas nicht ins Internet einloggen?

Doch selbst in den Vereinigten Staaten lassen sich die Alarmzeichen nicht übersehen: Kolumbien steht am Rande eines verheerenden Bürgerkriegs zwischen Guerillas, die vom Drogenhandel leben, und feindliche Milizen; im Süden Mexikos Süden tobt ein Aufstand, der sich nicht unter Kontrolle bringen lässt; in großen Teilen Asiens erstickt das künstlich genährte Wirtschaftswachstum in Korruption und Anarchie. Die Sympathie für die freie Marktwirtschaft zeigt in Südamerika einen deutlichen Rückgang: Im Mai 2000 war die Zustimmung zur Privatisierung von 46 auf 36 Prozent gesunken. Am bedrohlichsten aber ist die Lage in den ehemaligen kommunistischen Staaten, wo man vom Kapitalismus enttäuscht ist und wo die Vertreter der alten kommunistischen Ordnung Gewehr bei Fußstehen, um die Macht wieder an sich zu reißen. Wie einige Amerikaner sehr wohl wissen, ist ihr jahrzehntelanger Wirtschaftsboom nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass amerikanische Wertpapiere als sicherer Hort für internationales Geld um so attraktiver werden, je unsicherer die Lage im Rest der Welt ist.

 

In der Wirtschaftsgemeinschaft des Westens wächst die Sorge, die reichen Volkswirtschaften könnten in eine Krise treiben, wenn in den meisten übrigen Ländern der Welt alle Versuche scheitern, den Kapitalismus zu etablieren. Wie Millionen Anleger schmerzlich erfahren mussten, als sich das Geld verflüchtigte, das sie in Fonds für Schwellenländer investiert hatten, ist die Globalisierung keine Einbahnstraße: So wenig sich die Entwicklungsländer und die ehemaligen Ostblockstaaten dem Einfluss des Westens entziehen können, so wenig kann sich der Westen umgekehrt aus ihrer Umklammerung befreien. Auch in den reichen Ländern selbst hat sich die Abneigung gegen den Kapitalismus verstärkt. Die Proteste in Seattle bei der Welthandelskonferenz im Dezember 1999 und in Washington bei der Tagung von Weltbank und Internationalem Währungsfonds sechs Monate später zeigten bei aller Unterschiedlichkeit der Anliegen, wie groß der Zorn ist, den die Ausbreitung des Kapitalismus hervorruft. Viele erinnerten an den Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi und seine Warnung, dass freie Märkte mit den Anliegen der Gesellschaft kollidieren und in den Faschismus führen könnten. Japan schlägt sich mit der größten Wirtschaftskrise seit der Großen Depression herum. Die Westeuropäer wählen Politiker, die ihnen einen "Dritten Weg" versprechen, also die Abkehr von dem, was in einem französischen Bestseller Der Terror der Ökonomie genannt wurde.

So beunruhigend diese Alarmzeichen auch sind, bisher haben sie die amerikanischen und europäischen Politiker nur dazu veranlasst, dem Rest der Welt wieder die alte Leier vorzubeten: Stabilisiert eure Währungen, haltet durch, ignoriert die Lebensmittelunruhen und wartet geduldig auf die Rückkehr der ausländischen Investoren.

Ausländische Investitionen sind natürlich eine schöne Sache. Je mehr, desto besser. Auch stabile Währungen sind schön, ebenso wie Freihandel, Transparenz des Bankwesens, Privatisierung staatlicher Industrien und alle anderen Heilmittel, die der Westen in seinem Arzneischrank vorrätig hält. Doch wir vergessen dabei ständig, dass es schon früher Bestrebungen gab, den Kapitalismus zu globalisieren. Beispielsweise sind in Lateinamerika Reformen, die zum Ziel hatten, kapitalistische Systeme einzurichten, mindestens viermal gescheitert, seit man in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts die Unabhängigkeit von Spanien erreicht hatte. Jedesmal haben sich die Lateinamerikaner nach anfänglicher Euphorie von der kapitalistischen Wirtschaftspolitik und der freien Marktwirtschaft wieder abgewandt. Offenbar reichen diese Heilmittel nicht aus. Tatsächlich sind sie so unzulänglich, dass sie fast keine Rolle spielen.

Wenn ihre Heilmittel nicht wirken, ist die westliche Welt allzu leicht geneigt, nicht die Angemessenheit der Rezepturen infrage zu stellen, sondern den Menschen in der Dritten Welt ihren Mangel an Unternehmergeist oder Marktorientierung vorzuwerfen. Wenn sie es trotz all der ausgezeichneten Ratschläge nicht zu Wohlstand bringen, dann stimmt irgendetwas mit ihnen nicht: Ihnen fehlt entweder die protestantische Reformation, sie sind durch das koloniale Erbe gelähmt oder ihr IQ ist zu niedrig. Doch die Behauptung, die Kultur erkläre den Erfolg so grundverschiedener Regionen wie Japan, Schweiz oder Kalifornien, und die Kultur sei es auch, die die Armut so kulturell unterschiedlicher Regionen wie China, Estland und Baja California erkläre, ist nicht nur zynisch: sie ist schlicht nicht überzeugend. Das Wohlstandsgefälle zwischen dem Westen und dem Rest der Welt ist viel zu hoch, als dass es durch Kultur allein zu begründen wäre. Die Menschen sehnen sich nach den Früchten des Wohlstands, so sehr, dass viele, von Sanchez' Kindern bis zu Nikita Chruschtschows Sohn, in westliche Länder abwandern.

In den Städten der Dritten Welt und der ehemaligen Ostblockstaaten wimmelt es von Unternehmern — Sie können über keinen Marktplatz des Nahen Ostens gehen, in kein lateinamerikanisches Bergdorf wandern und in kein Moskauer Taxi steigen, ohne dass jemand versucht, ein Geschäft mit Ihnen zu machen. Die Bewohner dieser Länder besitzen Talent, Begeisterung und eine erstaunliche Fähigkeit, praktisch aus dem Nichts Profit zu schlagen. Die moderne Technik können sie verstehen und anwenden. Sonst wären die amerikanischen Unternehmen nicht so bemüht, die unberechtigte Verwendung ihrer Patente im Ausland einzuschränken. Auch würde die amerikanische Regierung sonst nicht so darum kämpfen, die moderne Waffentechnologie den Ländern der Dritten Welt vorzuenthalten. Märkte haben eine alte und weltweite Tradition: Vor 2000 Jahren vertrieb Jesus die Geldwechsler aus dem Tempel, und schon lange, bevor Kolumbus Amerika erreichte, brachten die Mexikaner ihre Produkte auf den Markt.

Doch wenn die Menschen in Ländern, die sich im Übergang zum Kapitalismus befinden, weder bemitleidenswerte Bettler noch hoffnungslos in antiquierten Verhaltensweisen festgefahren oder Gefangene fortschrittsfeindlicher Kulturen sind — was hindert den Kapitalismus dann, ihnen den gleichen Wohlstand zu verschaffen, den er dem Westen geschenkt hat? Warum blüht der Kapitalismus nur im Westen, als befände er sich unter einer Glasglocke?

 

In diesem Buch möchte ich zeigen, dass das Hauptproblem, das den Rest der Welt daran hindert, vom Kapitalismus zu profitieren, die Unfähigkeit ist, Kapital zu produzieren. Das Kapital ist die Kraft, die die Produktivität der Arbeitskräfte erhöht und den Wohlstand der Nationen schafft. Kapital ist das Lebensblut des kapitalistischen Systems, die Grundlage allen Fortschritts und jener Faktor, den die armen Länder der Welt offenbar nicht aus eigener Kraft schaffen können, egal, wie eifrig sich die Menschen dort allen anderen Aktivitäten widmen, die ein kapitalistisches Wirtschaftssystem auszeichnen.

Mit Fakten und Zahlen, die meine Forschungsgruppe und ich Wohnblock für Wohnblock und Farm für Farm in Asien, Afrika, dem Mittleren Osten und Lateinamerika ermittelt haben, werde ich ferner zeigen, dass die meisten Armen bereits die Vermögensgegenstände besitzen, die sie brauchen, um im Kapitalismus erfolgreich zu sein. Selbst in den ärmsten Ländern sparen die Armen. Tatsächlich haben die Ersparnisse der Armen einen immensen Wert: vierzigmal so viel wie alle ausländische Hilfe, die seit 1945 weltweit empfangen wurde. In Ägypten beispielsweise ist das Vermögen, das die Armen zusammengetragen haben, 45mal so viel wert wie die Summe aller Direktinvestitionen, die dort jemals verzeichnet wurden — einschließlich des Suezkanals und des Assuanstaudamms.

In Haiti, dem ärmsten Staat Lateinamerikas, ist das Gesamtvermögen der Armen mehr als 150mal größer als die ausländischen Investitionen, die dort seit der Unabhängigkeit von Frankreich im Jahre 1804 vorgenommen wurden. Sollten die Vereinigten Staaten ihre Auslandshilfe auf das von den Vereinten Nationen empfohlene Niveau anheben — 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts —, würde das reichste Land der Welt mehr als 150 Jahre brauchen, um den Armen der Welt Mittel bereitzustellen, die dem dort bereits vorhandenen Vermögen gleichkämen.

Doch diese Vermögenswerte leiden unter Mängeln: Häuser, die auf Grundstücken mit fragwürdigen Eigentumsverhältnissen erbaut sind, Nicht-Kapitalgesellschaften mit ungeklärter Haftung, Branchen, die für Finanziers und Investoren unsichtbar bleiben. Da die Eigentumsverhältnisse nicht ausreichend dokumentiert sind, lassen sich die Vermögensgegenstände nicht so leicht in Kapital umwandeln; sie können nur innerhalb enger lokaler Grenzen gehandelt werden, wo die Menschen einander kennen und vertrauen. Weder eignen sie sich als Sicherheiten für Kredite noch zur Ausgabe von Aktien an Anleger.

Im Westen dagegen ist jedes Grundstück, jedes Gebäude, jedes Gerät und jeder Lagerbestand in einem Eigentumsdokument repräsentiert — als sichtbares Zeichen eines umfassenden verborgenen Prozesses, der alle diese Vermögensgegenstände mit dem Rest der Volkswirtschaft verbindet. Dank diesem Repräsentationsprozess sind Vermögensgegenstände in der Lage, neben ihrer materiellen Existenz ein unsichtbares Doppelleben zuführen. Sie können als Sicherheit für Kredite dienen. In den Vereinigten Staaten ist die wichtigste Finanzierungsquelle für Existenzgründungen die Hypothek auf das Haus des Unternehmers. Dieser Vermögensgegenstand kann auch eine Verbindung zur Kreditgeschichte des Eigentümers herstellen, eine verlässliche Adresse für die Einziehung von Schulden und Steuern, eine Basis für die Gründung zuverlässiger und allgemeiner öffentlicher Versorgungsbetriebe und eine Grundlage für die Schaffung von Wertpapieren (wie Pfandbriefen), die rediskontiert und auf Sekundärmärkten verkauft werden können. Dadurch haucht der Westen seinen Vermögensgegenständen Leben ein und nutzt sie zur Kapitalbildung.

Ein solcher Repräsentationsprozess fehlt in Drittweltstaaten und ehemaligen kommunistischen Ländern. Infolgedessen sind die meisten von ihnen unterkapitalisiert, genauso wie eine Firma unterkapitalisiert ist, die weniger Wertpapiere ausgibt, als es ihre Einnahmen und Vermögenswerte rechtfertigen würden. Die Firmen der Armen haben große Ähnlichkeit mit Unternehmen, die keine Aktien oder Bonds ausgeben können, um neue Investitionen und Finanzmittel zu erhalten. Ohne Repräsentationen sind ihre Vermögensgegenstände totes Kapital.

Die armen Einwohner dieser Länder — die überwältigende Mehrzahl — haben zwar Besitztümer, doch fehlt ihnen der Prozess, der erforderlich ist, um ihr Eigentum zu repräsentieren und Kapital zu schaffen. Sie haben Häuser, aber keine Grundbucheintragungen, Ernten, aber keine Eigentumsdokumente, Firmen, aber keine Unternehmenssatzungen. Das Fehlen dieser entscheidenden Repräsentationsmechanismen erklärt, warum Menschen, die alle anderen westlichen Erfindungen übernommen haben, von der Heftklammer bis zum Atomreaktor, bislang nicht in der Lage sind, soviel Kapital zu schaffen, dass ihr heimischer Kapitalismus funktionsfähig ist.

 

Das ist das Geheimnis des Kapitals. Um es zu lüften, müssen wir verstehen, warum die Menschen im Westen in der Lage sind, in ihren Vermögensgegenständen Kapital zu sehen und aus ihnen Kapital zu schlagen, indem sie sie durch Eigentumstitel repräsentieren. Eine der schwierigsten Aufgaben für das menschliche Denken besteht darin, die Dinge, von denen wir wissen, dass es sie gibt, die wir aber nicht sehen können, wahrzunehmen und zugänglich zu machen. Nicht alles, was real und nützlich ist, ist auch greifbar und sichtbar. Die Zeit zum Beispiel ist real, aber man kann nur vernünftig mit ihr umgehen, wenn man sie durch eine Uhr oder einen Kalender repräsentiert. Von Beginn an haben Menschen immer wieder Repräsentationssysteme erfunden — die Schrift, musikalische Noten, doppelte Buchführung —, um mit dem Verstand zu erfassen, was die Hände nicht greifen können. In gleicher Weise vermochten die großen Praktiker des Kapitalismus, von den Schöpfern der integrierten Eigentumssysteme und der Ausgabe von Aktien bis hin zum Börsenspekulanten Michael Milken, Kapital zu erkennen und zu schaffen, wo andere nur wertlose Dinge sahen. Und sie ersannen neue Methoden, um das unsichtbare Potenzial zu repräsentieren, welches in dem Vermögen verborgen liegt, das wir anhäufen.

In dem Augenblick, da Sie diese Zeilen lesen, sind sie umgeben von Wellen des ukrainischen, chinesischen und brasilianischen Fernsehens, das Sie nicht empfangen können. Genauso sind Sie von Vermögensgegenständen umgegeben, die unsichtbares Kapital beinhalten. Die Wellen des ukrainischen Fernsehens sind so schwach, dass Sie sie nicht direkt spüren können, sie lassen sich aber mit Hilfe eines Fernsehempfängers entschlüsseln und dann können Sie sie sehen und hören: Auf die gleiche Weise kann Kapital aus Vermögensgegenständen gewonnen werden. Doch nur der Westen verfügt über die Voraussetzungen, die erforderlich sind, um Unsichtbares in Sichtbares zu verwandeln. Dieser Unterschied erklärt, warum westliche Länder Kapital schaffen können, Drittweltstaaten und ehemalige kommunistische Länder jedoch nicht.

Das Fehlen dieses Prozesses in den ärmeren Regionen der Welt, wo fünf Sechstel der Menscheit leben, ist nicht das Resultat einer monopolistischen Verschwörung des Westens. Vielmehr halten die westlichen Staaten diesen Mechanismus für so selbstverständlich, dass sie sich seiner überhaupt nicht mehr bewusst sind. Obwohl er in ihren Ländern allgegenwärtig und umfassend ist, sieht ihn niemand mehr, auch die Amerikaner, Europäer und Japaner nicht, obwohl sie doch ihren ganzen Reichtum der Fähigkeit verdanken, ihn zu nutzen. Er ist eine implizite rechtliche Infrastruktur, die tief in ihren Eigentumsystemen verborgen liegt — wobei Vermögensgegenstände nur die Spitze des Eisbergs sind. Der Rest des Eisbergs ist ein komplizierter, künstlicher Prozess, der Vermögensgegenstände und Arbeitskräfte in Kapital verwandeln kann. Dieser Prozess geht nicht auf einen Entwurf zurück und wird in keiner Hochglanzbroschüre beschrieben. Seine Ursprünge liegen im Dunkeln und seine Bedeutung ist tief verborgen im ökonomischen Unterbewusstsein der kapitalistischen Staaten des Westens.

Wie konnte uns ein so wichtiger Aspekt entgehen? Gewiss, es ist nicht ungewöhnlich, dass wir wissen, wie man Dinge verwendet, ohne zu wissen, warum sie uns nützen. So hatten Seeleute Magnetkompasse schon lange in Gebrauch, bevor es eine befriedigende Theorie des Magnetismus gab. Bevor Gregor Mendel die Gesetze der Vererbung entdeckte, haben Tierzüchter seit Jahrhunderten praktische Kenntnisse der Genetik entwickelt. Obwohl der Westen seinen Wohlstand dem reichlich vorhandenen Kapital verdankt, ist fraglich, ob die Menschen sich des Ursprungs dieses Kapitals wirklich bewusst sind. Falls nicht, besteht sogar die Gefahr, dass der Westen die Quelle seiner eigentlichen Stärke beschädigt. Wenn sich der Westen über den Ursprung des Kapitals klar ist, wird er auch in der Lage sein, sich und den Rest der Welt zu schützen, wenn die Hochkunjunktur wieder einmal der unvermeidlichen Krise weicht. Dann wird wieder die Frage zu vernehmen sein, die bei jeder internationalen Krise gestellt wird: "Mit wessen Geld soll das Problem gelöst werden?"

Bisher waren die westlichen Länder damit zufrieden, ihr System zur Kapitalbildung als gegeben hinzunehmen und dessen Geschichte nicht weiter zu dokumentieren. Diese Geschichte muss wiederentdeckt werden. So ist das vorliegende Buch zu verstehen: als ein Versuch, noch einmal der Quelle des Kapitals nachzuspüren und auf diese Weise zu erklären, wie den wirtschaftlichen Misserfolgen armer Länder abzuhelfen ist. Diese Misserfolge haben nichts mit Defiziten des kulturellen oder genetischen Erbes zu tun. Würde denn irgendjemand im Ernst behaupten, es gäbe kulturelle Gemeinsamkeiten zwischen Lateinamerikanern und Russen? Und doch haben beide Regionen im letzten Jahrzehnt, seit sie begannen, den Kapitalismus ohne Kapital aufzubauen, mit den gleichen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen gehabt: mit eklatanter Ungleichheit, Schattenwirtschaft, organisierter Kriminalität in großem Umfang, politischer Instabilität, Kapitalflucht und krasser Missachtung der Gesetze.

Diese Probleme entstanden nicht in den Klöstern der orthodoxen Kirche oder an den alten Inkastraßen. Sie sind auch keine Besonderheit von ehemaligen kommunistischen Staaten und Ländern der Dritten Welt. Schon 1783 wurden die Vereinigten Staaten von ihnen heimgesucht, damals klagte Präsident George Washington über "Banditen ... die auf Kosten der vielen den Rahm des Landes abschöpfen und verzehren." Diese "Banditen" waren illegale Siedler (Squatter) und kleine Unternehmer, die Land besetzten, das ihnen nicht gehörte. Während der nächsten hundert Jahre stritten die Squatter um das gesetzmäßige Recht auf ihr Land und Schürfer kämpften um ihre Claims, weil sich die Eigentumsgesetze von Stadt zu Stadt und Lager zu Lager unterschieden. Die Durchsetzung von Eigentumsrechten stiftete in den jungen Vereinigten Staaten ein solches Maß an sozialen Unruhen und Auseinandersetzungen, dass sich Joseph Story, Vorsitzender des obersten Bundesgerichts, 1820 fragte, ob die Juristen wohl jemals in der Lage sein würden, die Konflikte beizulegen.

 

Squatter, Banditen und offene Missachtung der Gesetze — klingt das vertraut? Immer wieder verkünden Amerikaner und Europäer den anderen Ländern der Welt: "Seid einfach wie wir!" Dabei haben diese Länder große Ähnlichkeit mit den Vereinigten Staaten vor hundert Jahren, als diese ebenfalls ein Drittweltland waren. Einst sahen sich die westlichen Politiker den gleichen tiefgreifenden Problemen gegenüber, mit denen sich heute die Verantwortlichen in Entwicklungsländern und ehemaligen kommunistischen Staaten herumschlagen. Doch die Politiker im Westen wissen nicht mehr, wie es war, als die Pioniere, die den amerikanischen Westen erschlossen, unterkapitalisiert waren, weil sie selten Eigentumstitel über das Land hatten, das sie besiedelten, und die Dinge, die sie besaßen. Vergessen sind die Tage, als Adam Smith auf Schwarzmärkten einkaufte, als Straßenjungen Pennys aus den schlammigen Ufern der Themse gruben, die lachende Touristen hineinwarfen, und als die Technokraten von Jean-Baptiste Colbert 16 000 Kleinunternehmer hinrichteten, deren einziges Verbrechen darin bestand, dass sie Baumwollstoffe herstellten und einführten und damit gegen die französischen Wirtschaftsgesetze verstießen.

Diese Vergangenheit ist für viele Nationen Gegenwart. Die westlichen Staaten haben ihre Armen so erfolgreich in ihre Volkswirtschaften integriert, dass sie vollkommen vergessen haben, wie sie das eigentlich gemacht haben — wie die Kapitalbildung begann, damals, als sich, mit den Worten des amerikanischen Historikers Gordon Wood,1 "in der Gesellschaft und Kultur etwas Folgenschschweres ereignete, das bei einfachen Menschen Sehnsüchte und Energien freisetzte, wie es sie in der amerikanischen Geschichte noch nie zuvor gegeben hatte." Das "Folgenschwere", das sich hier ereignete, bestand darin, dass die Amerikaner und Europäer im Begriff standen, ein umfassendes formales Eigentumsrecht zu schaffen und durch dieses Recht jenen Umwandlungsprozess zu erfinden, der ihnen ermöglichte, Kapital zu produzieren. Das war der Augenblick, wo der Westen die Demarkationslinie überschritt, die den Weg freigab zum erfolgreichen Kapitalismus — wo der Kapitalismus aufhörte, ein privater Klub zu sein und Teil der populären Kultur wurde, wo sich George Washingtons gefürchtete "Banditen" in die geliebten Pioniere verwandelten, die heute von der amerikanischen Kultur so gehätschelt werden.

 

Das Paradox ist so klar wie beunruhigend: Kapital, der wichtigste Faktor für den wirtschaftlichen Forschritt des Westens, ist zugleich der Faktor, dem am wenigstens Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Weil es vernachlässigt wurde, umgibt das Kapital ein Geheimnis — genau genommen sind es fünf Geheimnisse.

DAS GEHEIMNIS FEHLENDER INFORMATION

Wohltätigkeitsorganisationen haben so nachdrücklich auf die Not und Hilflosigkeit der Armen in der Welt hingewiesen, dass niemand ihre Fähigkeit, Vermögensgegenstände anzusammeln, angemessen dokumentiert hat. Im Laufe der letzten fünf Jahre habe ich zusammen mit hundert Kollegen aus sechs verschiedenen Ländern die Bücher zugeklappt und die Augen geöffnet: Wir sind hinausgegangen in die Städte und Dörfer auf vier Kontinenten, um zu ermitteln, wieviel in den ärmsten Gesellschaftsbereichen gespart worden ist. Der Wert dieses Vermögens ist enorm, doch das meiste ist totes Kapital.

DAS GEHEIMNIS DES KAPITALS

Das ist das entscheidende Geheimnis und das Kernstück dieses Buches. Das Kapital ist ein Gegenstand, der kluge Köpfe seit dreihundert Jahren fasziniert. Marx sagte, man müsse über die Physik hinausgehen, um die Henne zu berühren, "die goldene Eier legt". Nach Adam Smith musste man eine "Wagenspur durch die Luft" legen, um zu dieser Henne zu gelangen. Doch niemand hat uns gesagt, wo sich die Henne versteckt. Was ist Kapital, wie wird es geschaffen und in welcher Beziehung steht es zum Geld?

DAS GEHEIMNIS DES POLITISCHEN BEWUSSTSEINS

Wenn es so viel totes Kapital in der Welt gibt und wenn es sich in den Hände so vieler armer Menschen befindet, warum haben die betreffenden Staaten noch keine Anstrengungen unternommen, den potenziellen Wohlstand zu nutzen? Das hat einen einfachen Grund: Diese Situation hat sich erst in den letzten vierzig Jahren ergeben, als Milliarden von Menschen in der ganzen Welt ein Leben hinter sich ließen, das in kleinem Maßstab organisiert war, um ein Leben zu führen, das in großem Maßstab organisiert ist. Diese Abwanderung in die Städte hat zu einer raschen Arbeitsteilung und in ärmeren Ländern zu einer gewaltigen Revolution im gewerblichen Bereich geführt — einer Revolution, die, so unglaublich es klingt, praktisch nicht zur Kenntnis genommen wurde.

VERNACHLÄSSIGTE LEHREN IN DER GESCHICHTE DER VEREINIGTEN STAATEN

Was in der Dritten Welt und den ehemaligen kommunistischen Staaten geschieht, hat sich zuvor in Europa und Nordamerika zugetragen. Zwar haben wir fasziniert zugeschaut, wie eine große Zahl von Nationen beim Übergang zum Kapitalismus Schiffbruch erlitt, leider haben wir haben wir aber vergessen, auf welche Weise die erfolgreichen kapitalistischen Staaten es "geschafft" haben. Jahrelang habe ich Technokraten und Politiker in den fortgeschrittenen Ländern von Alaska bis Tokio aufgesucht, aber sie wussten keine Antworten. Es war ein Geheimnis. Schließlich entdeckte ich die Antwort in ihren Geschichtsbüchern, wobei sich die Geschichte der Vereinigten Staaten als das anschaulichste Beispiel erwies.

DAS GEHEIMNIS DES SCHEITERNS GESETZGEBERISCHER MAßNAHMEN: WARUM DAS EIGENTUMSRECHT AUßERHALB DES WESTENS WIRKUNGSLOS BLEIBT

Seit dem 19. Jahrhundert bildeten Staaten in aller Welt die Rechtssysteme des Westens nach, um ihren Bürgern den institutionellen Rahmen zur Schaffung von Wohlstand zu liefern. Noch heute kopieren sie solche Gesetze, aber offensichtlich haben sie damit keinen Erfolg. Die meisten ihrer Bürger sind noch immer nicht in der Lage, ihre Vermögen mit Hilfe dieser Gesetze in Kapital umzuwandeln. Warum sich das so verhält und was erforderlich ist, damit die Gesetze die erhoffte Wirkung zeitigen, bleibt ein Geheimnis.

Jedes dieser Geheimnisse wird in einem gesonderten Kapitel des vorliegenden Buchs gelüftet.

Die Zeit ist reif, um die Frage zu klären, warum der Kapitalismus im Westen triumphiert, während er sich praktisch überall sonst festgefahren hat. Da sich heute alle plausiblen Alternativen zum Kapitalismus erledigt haben, sind wir endlich in der Lage, das Kapital einer gründlichen und objektiven Untersuchung zu unterziehen.

 

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